Julian Nida-Rümelin – Zur Aktualität der humanistischen Bildungsideale

Idee des Universalismus

In der Antike kommt noch ein drittes Element hinzu, ohne das wir meiner Ansicht nach noch nicht von Humanismus sprechen können. Allerdings spielt dieses dritte Element weder bei Platon noch bei Aristoteles eine Rolle. Es ist die Idee des Universalismus, die – kantisch formuliert – besagt, dass alle Menschen gleichermaßen als Vernunftwesen gelten sollten und daher gleichermaßen Respekt und Würde verdienen. Allerdings hat Kant diese Auffassung natürlich nicht erfunden, sondern sie geht auf die griechische und römische Stoa zurück. Wenn also Cicero in seinem Werk De Officiis – einem langen Brief an seinen mehr oder weniger missratenen Sohn – eine klassische Quelle für diese Auffassung von Universalismus liefert, kann er damit keine übermäßige Originalität beanspruchen, sondern knüpft vielmehr an griechische Quellen, insbesondere an Panaitios an.11 Allerdings ist interessant, dass bei der Übersetzung von Panaitios in die lateinische Fassung eine Bedeutungsverschiebung stattgefunden hat. Das, was bei Cicero als ‚officium‘ bezeichnet wird, ist im Griechischen (kathekon). Der Unterschied, der nicht nur philologisch und historisch interessant ist, besteht in Folgendem: Das kathekon der griechischen Stoiker ist universalistisch und streng normativ gemeint, während das officium Ciceros und der Römer lediglich mit dem Amt oder der Rolle, die man in der Gesellschaft hat, verbunden ist. Officium ist gewissermaßen gekoppelt an den jeweiligen kulturellen Kontext, während kathekon universalistisch und im ethischen Sinne realistisch zu verstehen ist. Sie hören schon aus meinen Formulierungen heraus, dass ich mit der griechischen, d.h. universalistischen und ethisch realistischen Variante sympathisiere.