Drei Herausforderungen des humanistischen Bildungsideals
Damit bin ich schon bei meinem letzten Punkt, in dem ich die Herausforderungen in den Blick nehmen möchte, denen die humanistischen Bildungsideale momentan gegenüber stehen. Ich glaube, dass wir gegenwärtig drei Herausforderungen an das humanistische Bildungsideal meistern müssen. Das ist zum einen, dass – wie dargestellt – immer weniger Menschen an die Selbstzweckhaftigkeit von Bildung glauben und damit die Tradition des Theaitetos-Dialog, der Frühhumanisten Italiens und des mit Kant einsetzenden Neuhumanismus hinter sich lassen. Sie meinen, man müsse Bildung technokratisch steuern, und es gibt genug Bildungsforscher, die ihnen Instrumente an die Hand geben, um das scheinbar zu ermöglichen. Zweitens gibt es eine fortschreitende Parzellierung des Wissens und eine Auflösung unseres Orientierungswissens in Gestalt eines Überangebots an Informationshäppchen, aber auch in Gestalt einer immer stärker spezialisierten Detailforschung. Wer wirklich in der Spitze der Forschungsfront marschieren will, der ist gut beraten – so hört man jedenfalls immer öfter –, sich ganz auf ein Themenfeld zu beschränken, weil er dann in seinem Gebiet alle anderen ausstechen kann. Dadurch geht immer mehr von dem verloren, was bei Humboldt noch im Mittelpunkt stand, nämlich die Einheit des Wissens. Aber wir brauchen ein rationales, d.h. auf guten Gründen beruhendes, in sich stimmiges und allgemein vermittelbares Weltbild. Ohne ein solches lösen sich Zusammenhänge auf und Verständigung ist nicht mehr möglich. Die Individuen kommunizieren dann nur noch in ihren kleinen Kreisen, die so ähnlich denken und fühlen und leben wie sie selbst. Meiner Ansicht nach sollte es uns um ein humanistisches Weltbild gehen, von dem aus sich auch folgende Fragen beantworten lassen: Was macht menschliches Leben aus? Was sind die Elemente eines guten gelungenen menschlichen Lebens? Eine uralte Frage des humanistischen Denkens, nämlich die Frage, was ist ein gutes Leben, muss wieder stärker in den Mittelpunkt gerückt werden.
Damit geht – als zweite Herausforderung – eine globale Schieflage dadurch einher, dass die Fragen, die die Geisteswissenschaften und Kulturwissenschaften beschäftigen, immer mehr in den Hintergrund gedrückt werden. Die geisteswissenschaftliche Kultur ist multilingual verfasst, ihre Gegenstände sind mehrsprachlich und die Sprache, in der man diese Gegenstände beschreibt, ist selbst nicht einheitlich. Doch was gegenwärtig passiert, ist, dass für die Forschungsevaluationen aller Disziplinen ausschließlich englischsprachige Publikationen relevant sind. Doch dies macht bspw. für die Romanistik überhaupt keinen Sinn, ebenso wenig für die Philosophie. So lernen etwa die norditalienischen Studierenden an den Doktorandenkollegs in Padua Deutsch, um Hegel zu verstehen – und dann sollen Wissenschaftler in Deutschland englischsprachige Artikel publizieren, die sich natürlich auch nur auf Übersetzungen der Originalschriften von Hegel beziehen? Das ist eine schreckliche Entwicklung und kann nicht die letzte Antwort dazu sein, wie Forschung in der Zukunft aussehen wird.
Aktuell empfehlen Universitätspräsidenten ihren geisteswissenschaftlich Forschenden, dass sie keine Bücher mehr schreiben, sondern nur noch Artikel veröffentlichen sollen. Doch bis vor kurzem war das Bücherschreiben der eigentliche Beleg hochkarätiger geisteswissenschaftlicher Forschung. Durch diese Ratschläge droht die Entwertung eines ganzen Kulturbereichs. Wer liest denn die Artikel in den verschiedenen wissenschaftlichen Spezialzeitschriften? Das Feuilleton, die Theater, die Museen und die Philharmonien werden sich nicht mehr auseinandersetzen mit geisteswissenschaftlicher Forschung, wenn sie sich aus verschiedenen Publikationen zusammensuchen müssen, was für sie vielleicht relevant ist. D.h. ohne Buchpublikation wird die Geisteswissenschaft an kultureller Relevanz dramatisch verlieren.
Dies sind drei Herausforderungen der humanistischen Bildungsideale, die sich jetzt mit besonderer Dringlichkeit stellen. Deswegen schließe ich mit einer etwas polemischen, aber trotzdem sachlich begründeten These: Wer die Augen nicht verschließt vor den Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt, in der Gesellschaft, in den Technologien, in den Ökonomien weltweit, muss eigentlich zu der Erkenntnis kommen, dass Bildung heute paradoxerweise zur besten Ausbildung geworden ist. ‚Ausbildung‘ heißt im traditionellen Sprachgebrauch ‚Ausbildung zu einem spezifischen Beruf‘. So haben wir mehr als zweihundert Ausbildungsberufe im dualen System. Bildung dagegen ist nicht auf eine spezifische spätere Tätigkeit ausgerichtet. Und da wir in Zukunft alle vermutlich nicht mehr den Beruf, den wir am Anfang unseres Berufslebens ergriffen haben, an dessen Ende immer noch innehaben werden – weil es ihn aufgrund dynamischer Veränderungen gar nicht mehr gibt –, liegt es doch auf der Hand, dass es keinen Sinn mehr macht, auf ganz spezifische Berufe auszubilden. Wir müssen Personen bilden und zwar in der ganzen Vielfalt der Dimensionen menschlicher Existenz. Dazu gehört nicht nur die rein kognitive Dimension, also nicht nur die Bildung von Kenntnissen. Wir müssen uns auch in Urteilskraft und Entscheidungsfähigkeit üben. Ebenso wenig dürfen wir die soziale und die musische Dimension vernachlässigen. Wer ist eigentlich auf die Idee gekommen, dass PISA dagegen spricht, Kunsterziehung in den Schulen zu betreiben? Seit PISA geht der musische Unterricht in der Schule ebenso wie der Sportunterricht zurück. Ist das nicht eine Fehlentwicklung, wenn nun die ohnehin schon offenkundige kognitive Schlagseite noch weiter verstärkt wird? Die ethische, die soziale, die ästhetische Dimension sollten wir gleichermaßen ernst nehmen und uns damit wieder in die humanistische Tradition stellen. Bildung ist zur besten Ausbildung geworden, und deswegen sind in meinen Augen die humanistischen Bildungsideale so aktuell wie noch nie zuvor.